Bei mir sieht nun fast jeder Tag gleich aus. Inzwischen hat sich auch ein Tagesrhythmus eingestellt. Karfreitag war deshalb kein besonderer Tag für mich. Michael fährt täglich auf sein Amt und für ihn ist Ostern ein verlängertes Wochenende. Es ist dann oft schwierig sich auf gemeinsame Unternehmungen zu einigen. Ich schlage dann vor, einfach mal auf den Goethewanderweg zu gehen und bis auf den Kammweg oder bis Belvedere oder noch weiter zu laufen und dabei zu quatschen. Er will sich aber meist ins Auto setzen und was anderes sehen oder joggen oder mit dem Fahrrad auf den Ettersberg fahren. Ich entgegne dann, dass es doch egal ist, in welchem schönen Wald wir uns bewegen und unterhalten, joggen nicht gut für die Gelenke ist und er mich am steilen Ettersberg abhängt und wir uns dann auch nicht unterhalten können. Dann ruft er meist Matthias an und macht mit ihm richtigen Männersport. Manchmal ist er dann für Stunden und Tage erschöpft und es tun ihm das Handgelenk oder das Knie weh. Ich gehe lieber mit Hermine auf unseren Hausberg. Wir wählen jedesmal eine andere Route und sehen auch jedesmal was Neues.
Heute einigte ich mich mit Michael auf einen gemeinsamen Plan. Wir wollen mit dem Fahrrad über Gaberndorf nach Buchenwald und über die Prinzenschneise zurück.

Der Südhang vom Ettersberg ist sehr karg bewachsen und im Frühjahr oft richtig warm. Am Anfang des Studiums mussten wir auch alle den Berg hoch und den Schwur von Buchenwald leisten. Es war unerträglich heiss unter der dunkelblauen FDJ-Bluse. Auf dem Weg hatten wir sie ausgezogen und sind im bunten Bikinioberteil gelaufen.
Heute war es auch sehr heiß und das Fahrrad haben wir ab Gaberndorf geschoben bis zum Glockenturm. Während unserer Rast mit Blick über Weimar wurde die Buchenwaldglocke geläutet.

Oben am Turm war alles ruhig ein paar junge Leute waren zu zweit unterwegs. Ich hätte sie gerne gefragt, warum sie heute freiwillig hier oben sind, aber ich habe Abstand gehalten. Geplant war eigentlich eine große Gedenkveranstaltung mit vielen Politikern und ehemaligen Häftlingen.

An den vermoosten Ruinenresten der SS-Villen waren Familien unterwegs und die Kinder beobachteten Kellerasseln.
In Buchenwald wurden heute nur ein paar Kränze im Lagerbereich niedergelegt und am Lagerzaun legten Besucher Blumen und sehr persönliche Texte nieder.

Ich habe mich mal wieder gefragt, wie es Geschichtslehrer und auch einige Menschen schaffen, die die Zeit noch erlebt haben, das Geschehen in einem Konzentrationslager zu leugnen oder zu verdrängen und vergessen wollen.
Als ich das erste Mal in unserer Partnerstadt Siena war, hat uns die Stadtführerin zum Dom die Geschichte erzählt. Eine gigantische Erweiterung des damals schon riesigen Doms wurde 1339 beschlossen, um mit dem Dombau in Florenz zu konkurrieren und die größte Kirche der Welt haben. Die Pest von 1348 zwang zum Baustopp. Das Nordseitenschiff und die Fassade des „Duomo Nuovo“ der unvollendeten Kirche stehen noch. Von den Menschen in Siena wurde die Pest als Strafe Gottes für ihren Größenwahnsinn betrachtet und die unvollendete Kirche sollte als Mahnmal stehen bleiben. Das Ereignis ist heute noch im Gedächtnis der Menschen in Siena. Vor vielen Jahren war ich oft in Siena, wohnte in der Contrade der Gans, war auf dem Palio, habe den besonders traditionellen, fast mittelalterlichen Alltag erlebt. Die Menschen waren sehr zurückhaltend freundlich, bescheiden und immer zeitlos elegant gekleidet. Ich konnte sie dadurch auf dem Campo gut von vielen deutschen Touristen unterscheiden. Zumindest von männlichen mittelalterlichen Exemplaren in Safarilook, mit Socken in Sandalen, in Westen mit vielen Taschen für alles, was er zum Überleben in der Stadt braucht, Geld, Fotoapparat, Sonnenbrille. Deren Frauen liefen daneben meist in beiger 7/8-Hose, dazu ein großgeblümtes XL-T-Shirt mit Damenrucksack für alles was sie zum Überleben brauchen, Taschentücher, Pflaster, Regenschirm, Stulle… Ja, ich war auch deutsche Touristin bin aber von Italienerinnen auf italienisch angesprochen worden, aber das nur nebenbei bemerkt.
Ich habe jedenfalls den Verdacht, dass der Italiener an sich ein längeres Geschichtsgedächtnis hat als der Deutsche an sich. Oder ist das nur ein Klischee?